Organisationsentwicklung mit Systemtheorie

Workshop der BROCKHAUS AG zur systemtheoretischen Organisationsentwicklung mit Fokus auf Führung und Unternehmenskultur
Mitarbeitende der BROCKHAUS AG im internen Workshop zur Weiterentwicklung des Führungssystems – Kulturarbeit praktisch angewandt.
Workshop der BROCKHAUS AG zur systemtheoretischen Organisationsentwicklung mit Fokus auf Führung und Unternehmenskultur

Zwischen Wachstum und Identität: Wenn Skalierung zur Herausforderung wird

Vom rasanten Wachstum träumen viele Unternehmen – von den kulturellen Herausforderungen, die damit einhergehen eher nicht. Dieser Artikel erzählt, wie die BROCKHAUS AG damit umgegangen ist und wie systemtheoretische Denkwerkzeuge dabei halfen, die eigene Kultur ins Visier zu nehmen.

 

Wächst ein Unternehmen, wachsen auch die Herausforderungen: Strukturen und Hierarchien werden komplexer, Führung sollte neu gedacht und Prozesse müssen skaliert werden. Die BROCKHAUS AG kennt diese Dynamiken – aus Beratungsprojekten und auch aus eigener Erfahrung.

Rasantes Wachstum trifft auf Start-Up Mentalität

2015 übernahm die heutige Geschäftsleitung das Unternehmen mit rund 30 Mitarbeitenden. „Unser Fokus auf die Versicherungsbranche und unser Ansatz, IT und Business Consulting zu verbinden, hat voll ins Schwarze getroffen. Unsere Kunden haben uns unsere Leistungen regelrecht aus den Händen gerissen und diese Resonanz war der Startschuss für unser Wachstum!“, beschreibt Vorstand Matthias Besenfelder die darauffolgende Phase der Aufbruchsstimmung. Zwei Jahre später war die Marke von 100 Mitarbeitenden überschritten und es wurde klar, dass neben der zweiköpfigen Geschäftsleitung weitere Führungskräfte benötigt werden. Es entstand die Rolle der „People Manager“ – anfangs noch als vages Konzept, aber mit einer klaren Vision: Führungsverantwortung soll auf mehrere Köpfe verteilt werden, die gleichzeitig noch aktiv in Kundenprojekten arbeiten.

 

Zunächst gab es noch keine formalen Auswahlverfahren für die Führungsrollen, stattdessen entschied die Geschäftsleitung, wer für diese Rolle geeignet war. Mit zunehmendem Unternehmenswachstum auf mittlerweile rund 175 Mitarbeitende wuchs auch das Bedürfnis, das Verfahren zu professionalisieren und die bisher gelebten Regeln und Vorgaben der Führung zu formalisieren.

Da stimmt doch was nicht! Oder doch?

Die bisher gelebte Start-up-Mentalität wurde auf den Prüfstand gestellt. So viel Formalismus und Professionalität in den eigenen Prozessen war neu für die BROCKHAUS AG, was zunächst eher für Chaos und höheren Abstimmungsbedarf sorgte als für Entlastung.

 

Unsere systemtheoretische Expertise und Erfahrung als Organisationsentwickler bei AGILEVERSITY hatte uns beide besonders aufmerksam für diese Veränderungen und ihre möglichen Folgen gemacht. Wir hatten Sorge, dass wir unsere partizipative Kultur verlieren könnten, auf die wir stolz waren und die in unseren Augen den entscheidenden Unterschied zu vergleichbaren Consulting-Unternehmen ausmachte.

 

Konkret fiel beispielsweise auf, dass die neu ernannten People Manager anders agierten als die etablierten. Das führte teilweise zu uneinheitlichen Herangehensweisen auch bei hochsensiblen Sachverhalten. Es gab zum Beispiel keine klare Linie bei Gehaltserhöhungen oder Weiterbildungsmöglichkeiten. Die neuen People Manager beharrten zunehmend auf abgestimmten Regelungen, während die Alten auf ihre Freiheiten in der Führung aus waren.

 

In uns wuchs das Bedürfnis, die Werkzeuge, die wir als Consultants bei unseren Kunden bereits mehrfach erfolgreich eingesetzt hatten, auch intern zu nutzen.

 

Wir wollten nicht in Muster verfallen, die gerade in der Consulting-Branche oft vorkommen: Während in Kundenprojekten kontinuierliche Verbesserung im Fokus steht und modernste, höchstwirksame Werkzeuge genutzt werden, bleibt die Arbeit am eigenen Unternehmen häufig auf der Strecke – obwohl das Know-how dafür längst vorhanden ist.

 

Aus unserer Beratungspraxis war uns klar, dass die Einbindung des Top-Managements entscheidend ist. Wir gingen daher auf unseren Vorstand zu, um ihn für unser Anliegen zu gewinnen. Nach einem Austausch zu den grundlegenden Eckpunkten der Systemtheorie sah er ebenfalls Herausforderungen in unserem Führungssystem und erteilte uns das Mandat, diese zu untersuchen.

Vergleich zweier Führungsmodelle der BROCKHAUS AG: Links eine zweiköpfige Geschäftsleitung, rechts ein vernetztes System aus mehreren People Managern mit intensiver Führungskommunikation.

Aufräumen mit Immunabwehr

Unser erster Schritt war ein Praktikenputz – ein Aufräumen der über Jahre angesammelten Strukturelemente, wie z. B. unserer Regeln, Prozesse und Meetingformate. Die bloße Sichtbarmachung dieser Praktiken löst in der Regel bereits den Wunsch nach Reduktion aus. Doch wir stießen auf Widerstand: Während wir ausgediente Praktiken streichen wollten, betonte die Geschäftsleitung deren ursprüngliche Sinnhaftigkeit. Schließlich hatte sie selbst den Großteil dieser Praktiken eingeführt. Es offenbarte sich ein typisches Phänomen der Organisationsentwicklung: die Immunabwehr. Vorherrschende Muster sind schwer zu durchbrechen und die Organisation wehrt sich gegen Eingriffe. Auch bei der BROCKHAUS AG zeigte sich ein klares Muster: Während neue Strukturen und Prozesse gerne eingeführt wurden, fiel das Beenden oder Loslassen schwer. Der Praktikenputz war ein wichtiger erster Schritt zur Selbstbeobachtung und um eine Diskussion über die angesammelten Praktiken anzustoßen. Die umfassende Bereinigung fiel zwar aus, und die Maßnahme wurde von der Immunabwehr einkassiert, aber wir fühlten uns auf dem richtigen Weg und ließen nicht locker.

Disruption bei Führungsmustern

Im nächsten Schritt richteten wir unseren Fokus auf das Führungssystem, das sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert hatte. Um Führung und Vollzeit-Consulting möglich zu machen, mussten die Führungsspannen klein bleiben, sodass jeder People Manager maximal fünf Consultants führte. Das hatte zur Folge, dass sich die Zahl der Führungskräfte in neun Jahren verzehnfacht hatte. Gleichzeitig wurde die Qualität der Führung als sehr unterschiedlich wahrgenommen. Ein Indikator dafür, genauer hinzuschauen.

 

Während der Praktikenputz direkt auf die sichtbaren Praktiken und Strukturelemente abzielte, mussten beim Führungssystem zunächst die relevanten Probleme identifiziert werden. Denn allzu oft wird vorschnell mit Lösungen gearbeitet, die lediglich Symptome bekämpfen, ohne die auslösenden Ursachen zu adressieren.

 

In der systemtheoretischen Organisationsentwicklung gilt: Eine Kultur kann nicht direkt verändert, sondern nur beobachtet und reflektiert werden. Ziel unserer Kulturbeobachtung war es daher, unbewusst ablaufende Muster einer Unternehmenskultur sichtbar und besprechbar zu machen. Ein besonders wirksames Werkzeug innerhalb der Kulturbeobachtung sind verkettete Gespräche (Quelle: Denkzettel 27, Dr. Gerhard Wohland). Dafür entwickelten wir zunächst Hypothesen, wie:

 

„Unsere Führungskräfte haben nicht genug Zeit, zu führen.“

 

„Wir drücken uns vor harten Entscheidungen.“

 

Diese Hypothesen bildeten die Grundlage für unsere Gespräche mit ausgewählten Teilnehmenden. Neben Führungskräften befragten wir langjährige Mitarbeitende sowie Mitarbeitende aus der Personalabteilung und dem Vertrieb, die eng mit den Führungskräften zusammenarbeiten. In Gesprächen reflektierten sie mit uns ihre Gedanken zu den erarbeiteten Hypothesen. Die Bandbreite der Reaktionen reichte von „Volltreffer“ bis „Unsinn“. Nach jedem Gespräch wurden die Hypothesen sprachlich und inhaltlich geschärft, neue Aspekte ergänzt oder einzelne Annahmen verworfen. So entstand nach mehreren Runden ein differenziertes Bild unserer Führungskultur.

Von der Kulturbeobachtung zur Veränderung

Dieses differenzierte Bild sollte nun geteilt und vor allem besprechbar gemacht werden. Dafür luden wir alle Führungskräfte zu einem Reflexionsworkshop ein, in dem wir unsere Ergebnisse vorstellen wollten. Um die Hypothesen jedoch nicht einfach nur zu präsentieren, verpackten wir sie stattdessen provokant und zugespitzt in einem Brief an die fiktive neue Führungskraft „Sophie“ mit der Message: Das erwartet dich hier!

 

Der Inhalt des Briefes sorgte zunächst für Stille im Raum, eine Art Schockzustand und für sehr nachdenkliche Gesichter. Die unbewussten Muster, die bisher im Alltag maximal in Einzelgesprächen auf den Fluren besprochen worden sind, bekamen eine konkrete Form, was sich für alle Anwesenden befreiend und gleichzeitig bedrückend anfühlte. Um die konkreten Auswirkungen davon noch besser greifbar zu machen, haben wir mithilfe des World Café Formats drei Leitfragen beantwortet: „Was bedeuten diese Erkenntnisse für die BROCKHAUS AG?“, „Was bedeutet es für mich als Führungskraft?“ und „Was sollten wir am Führungssystem ändern?“

 

Im Anschluss diskutierten wir in der großen Gruppe die Erkenntnisse und ihre Relevanz. Die durch den Prozess angestoßene Gesprächsdynamik deckte auch positive Muster auf, die es wiederum zu bewahren oder weiterzuentwickeln galt. Im nächsten Schritt entwickelten mehrere Arbeitsgruppen konkrete Maßnahmen, um Anpassungen an unserem Führungssystem vorzunehmen. Dabei wurden folgende Aspekte behandelt:

 

• Mehr Zeit für Führung neben dem Consulting-Auftrag

• Schaffung konkreter Rahmenbedingungen (Richtlinien, Prozesse, Checklisten) für People Manager

• Steigerung der Führungsqualität

 

Der Einsatz der systemtheoretischen Denkwerkzeuge hat der BROCKHAUS AG geholfen, klarer zu unterscheiden, was beobachtbar, aber nicht direkt beeinflussbar ist (Kultur), und wo gezielt angesetzt werden kann, um Veränderungen zu bewirken (Struktur). Diese Differenzierung spielt nicht nur in unseren Kundenprojekten eine zentrale Rolle, sondern wird seitdem auch intern genutzt, um wirksame Veränderungsmaßnahmen durchzuführen und die dahinterliegenden Probleme besser besprechen zu können.

 

Organisationsentwicklung ist kein Sprint, sondern ein Marathon – und wir sind noch lange nicht am Ziel. Auf diesem Weg lauern typische Fallstricke. Zum einen ist es essenziell, in der Organisationsentwicklung geduldig die eigene Sichtweise auf die Organisation zu erklären und dabei möglichst verständlich und anschlussfähig zu kommunizieren, ohne die Menschen mit zu vielen Fachbegriffen zu überfordern. Zum anderen sollten eingespielte Handlungsmuster weder verharmlost noch ignoriert werden, denn sie sind oft tief verwurzelt. Sie beeinflussen das Verhalten der Menschen im Unternehmen und wirken auf die Unternehmenskultur ein. Trifft man auf Widerstand, auf eine Immunabwehr der Organisation, bedeutet es häufig, dass man einen wunden Punkt und damit eine echte Chance zur Veränderung getroffen hat.

Profilbild von Scrum Master Kristin
Autor

Kristin Kotte

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Profilbild von Agile Coach Jan Westrup
Autor

Jan Westrup

Agile Coach

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